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Michaela Boehme

Junge Frauen zwischen traditionellen Familienwerten und dem Wunsch nach Selbstbestimmung


Szene aus dem Film "Meine Schwester" ( 我的姐姐)
 

Li He, "Als große Schwester war ich immer die Vernünftige" [1]

Übersetzt von Michaela Böhme

 

Anmerkungen zum Text


„Frauen stützen den halben Himmel“ – so lautet ein geflügeltes Wort aus der Feder Mao Zedongs. Doch mit der Lebensrealität vieler Frauen im modernen China hat dieses Bekenntnis zur Geschlechtergerechtigkeit aus den Frühzeiten der Kommunistischen Partei nur wenig zu tun.


Junge Frauen stehen in China unter enormem sozialen Druck. Obwohl viele gut ausgebildet und finanziell selbstständig sind, wird von ihnen erwartet, dass sie ihre eigene Wünsche und Ansprüche zugunsten familiärer Interessen zurückstellen.


Nun hat ein heimisches Low-Budget-Drama – Meine Schwester (我的姐姐) – eine intensive Debatte über Geschlechterrollen und die unterschiedliche Erwartungshaltung an Töchter und Söhne innerhalb der chinesischen Familienstruktur ausgelöst.


Der Film erzählt die Geschichte der jungen, angehenden Krankenpflegerin An Ran. Nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern wird sie von ihrer Familie unter Druck gesetzt, die Erziehung ihres sechs Jahre alten jüngeren Bruders zu übernehmen und dafür ihre eigenen Träume und Karriereziele zu opfern – eine Anforderung, die An Ran vor eine innere Zerreißprobe stellt.



Anknüpfend an diese Debatten thematisiert auch der hier im Fokus stehende Essay Als große Schwester war ich immer die Vernünftige von Li He die systematische Ungleichbehandlung von Töchtern und Frauen innerhalb einer patriarchalischen Familienkultur, in der traditionell besonders Söhne wertgeschätzt werden (da nur diese die Familienlinie weiterführen und die Ahnen ehren können, während Töchter in die Familie des Ehemanns einheiraten und dem elterlichen Haushalt damit sowohl sozial als auch ökonomisch entzogen werden).


Mit Blick auf die eigene Familiengeschichte erzählt Li He davon, wie die späte Geburt einer kleinen Schwester und eines kleinen Bruders ihre kindliche Welt ins Wanken bringt. Mit der Ankunft ihrer Geschwister – insbesondere des Bruders – wird von ihr erwartet, dass sie die eigenen Bedürfnisse hinter die Fürsorge für ihren Bruder zurückstellt. In vielen kleinen Alltagsgesten offenbart sich die bevorzugte Behandlung ihres Bruders, während von ihr selbst Verzicht und Vernunft erwartet werden.


Gleichzeitig zeigt Li Hes Essay auch, dass junge Chinesinnen durchaus selbstbewusst und unabhängig sind. Der Konflikt zwischen traditionellen Familienwerten und individuellen Ambitionen stellt viele von ihnen vor ein moralisches Dilemma, bei dem immer wieder neu ausgelotet werden muss, was es bedeutet, Tochter, Schwester oder Ehefrau in einer sich schnell wandelnden Gesellschaft zu sein.


 

"Als große Schwester war ich immer die Vernünftige"

Essay von Li He


01

In meiner Familie gibt es viele Verwandte. Dementsprechend vielfältig sind die Ansichten, und oft geht es bei Diskussionen hoch her. Nur in einem sind sich alle einig: unter uns drei Geschwistern bin ich – die älteste Schwester – die Vernünftigste.


Ich finde, da haben sie absolut Recht.


Zwischen mir und meiner kleinen Schwester liegen acht Jahre, zwischen mir und meinem kleinen Bruder sogar neun. Zuhause machen die beiden oftmals Scherze über mich „alte Tante“ und ziehen mich damit auf, dass ich trotz meines Alters noch immer keinen festen Freund habe. Am Anfang habe ich versucht, ihnen mit Vernunft beizukommen, aber später habe ich es dann aufgegeben, es führt ja doch zu nichts.


Seit meine beiden kleinen Geschwister auf der Welt sind, machen sie mir das Leben sauer.


Noch bevor sie geboren wurde, hat mir meine kleine Schwester meine Mutter weggenommen. Es war 2005, ich ging noch zur Grundschule. Ich wusste nur, dass meine Mutter nicht mehr da war, aber ich hatte keine Ahnung, wohin sie verschwunden war. Die Sommerferien waren da, und ich hatte das Schuljahr als Klassenbeste abgeschlossen. Zur Belohnung versprach mir mein Vater, dass wir meine Mutter besuchen würden. Als Familie würden wir gemeinsam eine Urlaubsreise an den Xiannü-See machen, so sagte mein Vater.


Ich erinnere mich an das langsame Tuckern der Eisenbahn, doch als wir an unserem Ziel ankommen, ist vom Xiannü-See weit und breit keine Spur. Statt dessen sehe ich eine Mietskaserne, umgeben von Unkraut und grauen Gebäuden. Am Eingang steht meine lang vermisste Mutter mit einem Säugling in den Armen.


„Schau mal, das ist deine kleine Schwester“, sagt sie zu mir.


Ein Gefühl der Verlegenheit überkommt mich, und ich bleibe wie angewurzelt am Boden stehen. Ich drehe mich zu meinem Vater um und frage: „Papa, fahren wir noch an den Xiannü-See?“ Mein Vater blinzelt verlegen und antwortet: „Beim nächsten Mal.“


Nur ein Jahr später kommt mein Bruder zur Welt. Für meine Familie ist dies der größte Glücksmoment überhaupt. Mein Vater kommt extra zu mir in die Schule, um mich direkt vom Klassenzimmer in die städtische Klinik zu bringen. Ich erinnere mich nicht, wie mein Bruder damals aussah, als ich ihn zum ersten Mal erblickte, ich erinnere mich nur an das trockene Häufchen Kot in einer Ecke des Kreissaals. Während alle meinen Bruder in Augenschein nehmen, starre ich auf das Häufchen und denke, dass die beiden zusammengehören.


Früher hatten meine Eltern nie von mir verlangt, die Rolle der großen Schwester einzunehmen, aber mit der Ankunft meiner beiden Geschwister änderte sich das Leben gewaltig.


So zum Beispiel bei unserem Gang zum Wochenmarkt. Bis dorthin sind es 20 Minuten zu Fuß. Die kümmerlichen Bäume am Straßenrand recken ihre kläglichen Äste, mit denen sie kaum Schatten für uns Fußgänger spenden. Auch früher schon begleitete ich meine Mutter auf ihrem Weg zum Wochenmarkt, um dann mit ihr gemeinsam die Einkaufstaschen nach Hause zu tragen. Glücklich und einträchtig liefen wir dann immer mit unseren Einkäufen die Straße hinab.


Doch nach der Ankunft meiner beiden Geschwister ist alles anders. An jeder Hand hält meine Mutter jetzt ein kleines Kind, Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn, während ich alle Einkäufe alleine trage. Als Dankeschön ernte ich von meiner Mutter die Bemerkung: „Xiao He, du bist ja jetzt schon groß und vernünftig.“


Das ist der Anfang, von nun an folgt mir das Wort „vernünftig“ auf Schritt und Tritt.


Ich habe Mama und Papa nie wieder gefragt, wann wir zum Xiannü-See fahren würden. So ziehen die Sommer vorbei, Tag für Tag. Bis zum Ende meiner Kinder- und Jugendzeit bei meinen Eltern sollte ich den Xiannü-See nie zu Gesicht bekommen. Nur an die unbekannten kleinen Wildblumen auf dem Weg zum Wochenmarkt erinnere ich mich.


Li He mit ihren kleinen Geschwistern | © Li He


02

Als mein Bruder 100 Tage alt wurde, entstand das erste Foto von mir. Auf dem Foto sieht man mich gemeinsam mit meinen beiden Geschwistern.


An diesem Tag kam eine Fotografin mit ihrem Moped bis zu uns nach Hause. Kaum hat sie meinen Bruder gesehen, beginnt sie schon, ihn in höchsten Tönen zu loben. „Die Ohrläppchen des Kleinen sind ja wirklich groß, das verspricht ein langes Leben.“ Oder auch: „Er ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, der wird mal in Zukunft sehr viel Geld verdienen.“


Ich sitze auf einem Hocker daneben und mache Hausaufgaben. Unbewusst berühre ich meine Ohrläppchen und muss feststellen, dass die Ohrläppchen meines Bruders wirklich sehr groß sind. Insgeheim werde ich eifersüchtig. Der soll kein längeres Leben haben als ich, denke ich bei mir.


Nachdem die Aufnahmen zur 100-Tages-Feier meines Bruders im Kasten sind, wählt meine Mutter die schönsten Fotos aus. Ein Set enthält neun Fotos, erklärt die Fotografin, aber meine Mutter wählt lediglich acht aus, nicht wissend, wie sie das Set voll machen soll. Daraufhin schlägt die Fotografin vor, ein Gruppenfoto von uns drei Geschwistern zu machen. Meine Mutter willigt ein.


Dies ist das erste Foto von mir. Daneben sieht man meine beiden nicht aus meinem Leben zu verbannenden kleinen Geschwister. Fast scheint es mir ein Sinnbild meiner Kindheit zu sein – mit den beiden lästigen Geschwistern bin ich für immer verbunden. Auf dem Foto sieht man mich mit unordentlichen Haaren, ein Kuscheltier in den Armen, das ich davor hastig aus der Wohnung meines frisch verheirateten Onkels herausgetragen hatte. Daneben steht meine kleine Schwester, einen Strauß schöner Kunstblumen in der Hand, während mein Bruder mit zusammengekniffenen, schläfrigen Augen im Kinderwagen sitzt.


Nachdem meine Schwester und mein Bruder geboren sind, zieht unsere fünf-köpfige Familie in eine kleine Wohnung in der Provinzhauptstadt um. Unsere neue Bleibe ist heruntergekommen und dunkel. Im Schlafzimmer steht ein einziges Möbelstück – ein Kleiderschrank aus Stoff – und das Wohnzimmer müssen wir mit einer anderen Familie teilen.


Raum für mich gibt es hier nicht, stattdessen werden die Tage von der Präsenz meiner kleinen Geschwister dominiert. Während meine Mutter kocht oder einkaufen geht, passe ich auf meine beiden Geschwister auf, nach der Schule muss ich mich um die beiden kümmern, ja selbst an den Wochenenden bin ich für sie zuständig.


Meine beiden kleinen Geschwister dominieren mein Leben vollständig – sowohl in räumlicher als auch zeitlicher Hinsicht. Manchmal trage ich mich mit dem Gedanken, von hier einfach auszubrechen.


Zu dieser Zeit läuft abends um sechs Uhr immer meine Lieblings-Zeichentrickserie im Fernsehen. Doch dies ist leider auch genau der Moment, in dem meine Mutter in der Küche das Abendessen zubereitet. Natürlich bin ich da wieder gefragt, auf meinen kleinen Bruder aufzupassen. Sobald ich ihn in den Kinderwagen setze, fängt er an zu weinen und will unbedingt auf meinen Arm. Da ich selber noch jung bin und meinen Bruder nicht allzu lange in den Armen halten kann, setze ich ihn auf der Schlafmatte am Boden ab, um mit ihm gemeinsam die Zeichentrickserie anzusehen. Doch mein kleiner Bruder mag nicht. Erst nachdem meine Mutter den Fernsehkanal auf „Pleasant Goat and Big Big Wolf“ umgestellt hat, hört er auf zu weinen.


Damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden, aber das Geheule meines Bruders kann ich noch weniger ertragen, also muss ich mich wohl auf den Kompromiss einlassen. Als ich aufblicke und in das lachende Gesicht meines Bruders sehe, stoße ich ihn unbeabsichtigt um. Mein Bruder fällt zu Boden und stößt sich dabei am Ventilator, der dort steht. Sofort beginnt er am Mund zu bluten.


Als meine Mutter den Schrei meines Bruders hört, eilt sie aus der Küche und fragt mich, was passiert sei. Ich erkläre ihr, dass mein Bruder auf der Suche nach seinem Spielzeug selbst hingefallen sei. Meine Mutter stellt keine weiteren Fragen mehr, nimmt meinen Bruder auf den Arm und verlässt das Zimmer. Ich stelle den Fernsehkanal in aller Ruhe wieder auf meine Lieblings-Zeichentrickserie um, die soeben begonnen hat.


03

Von Tag zu Tag werde ich vernünftiger und erwachsener, meine Eltern halten das für vollkommen normal. Meine Rolle ist die der großen Schwester – für eine große Schwester gehört es sich nun einmal, vernünftig zu sein.


Dass sie sich an meine Rolle als große Schwester derart gewöhnt haben, bedeutet auch, dass ich von meinen Eltern kein Lob mehr erhalte.


Nach und nach werden so auch alle Ungerechtigkeiten gerechtfertigt. Wie zum Beispiel die Tasse heiße Sojamilch, an der ich mir Morgen für Morgen zum Frühstück den Mund verbrannt habe, weil die Zeit nicht zum Abkühlen reichte.


Meine Schwester geht zu der Zeit in den Kindergarten und ich bin gerade in die Mittelstufe gekommen. Jeden Morgen muss ich eine halbe Stunde allein mit dem Fahrrad zur Schule fahren, während meine Mutter meine Schwester in den Kindergarten bringt. Im Winter steht meine Mutter jeden Tag um sieben Uhr auf und bereitet für uns Sojamilch im Mixer zu. Eine halbe Stunde später gieße ich die heiße Sojamilch in meine Tasse. Ich habe genau 15 Minuten, um die Milch auszutrinken. Nehme ich mir nur etwas mehr Zeit, komme ich unweigerlich zu spät zur Schule.


Als ich meine Mutter bitte, mich doch zusammen mit meiner kleinen Schwester mit dem Elektroroller zur Schule zu bringen, sodass ich morgens mehr Zeit zum Frühstücken habe, bringt mir mein Vater Vernunft bei: „Das ist so früh, Mama möchte gerne etwas länger schlafen. Und was soll deine kleine Schwester machen, wenn sie schon so früh im Kindergarten ist? Außerdem ist es früh morgens draußen so kalt, was, wenn deine Schwester auch noch krank wird? …“


Ab der Oberstufe bin ich dann wochentags in der Schule untergebracht. Wenn ich Freitagnachmittag nach Hause komme, bin ich dafür zuständig, die schmutzigen Pfannen und Töpfe zu waschen, die sich im Laufe der Woche angesammelt haben. Am Samstagmorgen hängen sie wieder ordentlich im Geschirrschrank und schwingen leicht in der sonnigen Brise. Von unseren Nachbarn höre ich nun ständig Sätze wie: „Xiao He, du bist schon richtig groß geworden – so fleißig und vernünftig.“ Aber in meinem Innersten weiß ich, dass mir ein friedliches Wochenende für mich allein lieber gewesen wäre.


Die Tage gehen dahin, und nach dem Abschluss der Oberstufe lande ich auf einer Universität außerhalb meiner Heimatprovinz. Meine Eltern denken, dass ich kein Glück bei meiner Erstwahl hatte, aber das Gegenteil ist der Fall. Von den sechs Wahluniversitäten, die ich angeben konnte, ist die Universität meiner Heimatprovinz meine letzte Wahl.


In meinem letzten Studienjahr bestehe ich die Prüfung zum Postgraduiertenstudium. Die Studiengebühren betragen 8.000 Yuan, das von mir ergatterte Stipendium deckt jedoch nur Kosten in Höhe von 5.000 Yuan. Als ich meinem Vater von der Situation erzähle, sagt er mir, ich solle einen Kredit aufnehmen. Also beantrage ich ein Studentendarlehen über 10.000 Yuan. Ein paar Tage später überweist mein Vater 5.000 Yuan Kursgebühr für einen Online-Kurs meines Bruders.


So ist das, denke ich bei mir, mein Vater hat es nicht mal für nötig gehalten, mit mir darüber zu sprechen.


04

2020 ist das Jahr der Corona-Pandemie. Von Januar bis September bin ich zu Hause bei meinen Eltern und warte darauf, dass die Universitäten wieder öffnen und meine Promotion aufnehmen kann. Während dieser Zeit gibt es immer wieder Zank zwischen mir und meiner jüngeren Schwester.


Als Ältere von uns beiden versuche ich meine Schwester zur Unabhängigkeit zu erziehen, zum Beispiel indem ich ihr erkläre, dass sie ihr eigenes Schicksal bestimmt und dass andere Menschen kein Recht haben, sich einzumischen. Ich dachte immer, dass dies zu ihrem besten sein, doch ich muss feststellen, dass meine emanzipatorischen Ansichten bei ihr nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Immer wieder höre ich von ihr Sätze wie „Wieso denn das?“ oder „Woher willst du das denn wissen?“.


Die Diskussionen mit meiner Schwester regen mich zum Nachdenken an. Vielleicht ist es ja tatsächlich besser für ein Mädchen, artig und gehorsam zu sein, und vielleicht ist es auch irgendwie angemessener für eine Durchschnittsfamilie, wie wir es sind.


Ich beginne zu zweifeln, ob ich solche Ansichten tatsächlich mit meiner kleinen Schwester teilen sollte. Vielleicht verliere ich so meine Autoritätsposition als ältere Schwester – ein Gedanke, der sich ganz und gar nicht gut anfühlt.


Doch Ideen sind wie ein steter Tropfen, der den Stein höhlt. Ist man ihnen erst einmal im täglichen Leben ausgesetzt, kann man nicht anders, als von ihnen durchdrungen zu werden.


Einmal, in den Semesterferien, treffe ich mich mit einer Gruppe Freunden zum Singen in einer Karaoke-Bar. Am nächsten Morgen erhalte ich eine Nachricht von C, dem ehemaligen Klassenkameraden einer Freundin von mir. Zunächst denke ich mir nichts besonderes dabei, doch später erfahre ich von meiner Freundin, dass sich C auf den ersten Blick in mich verliebt habe. Nachdem wir eine Weile Nachrichten ausgetauscht haben, reist C sogar von außerhalb an, um mich auf dem Campus zu besuchen.


Während der wenigen Tage, die wir miteinander verbringen, stelle ich fest, dass ich für C keine besonderen Gefühle habe. Meine Freundinnen überzeugen mich, es doch zumindest zu versuchen und ich stimme ihnen zu. Doch bereits auf dem Weg zurück in mein Wohnheim überflutet mich das Bedauern wie eine riesige Meereswelle und ich bekomme kaum noch Luft. Meine Entscheidung bereue ich bereits jetzt.


Als ich meiner Mutter von den Ereignissen der letzten Tage und meinen Gedanken erzähle, schilt mich diese am Telefon, dass ich nicht vernünftig genug sei. Während unseres Gesprächs betont sie immer wieder, dass C’s Eltern Besitzer von drei nagelneuen Apartments sind, nachdem diese von der Regierung eine hohe Entschädigungssumme für die Räumung ihres alten Grundstücks erhalten hatten. Doch dieses eine Mal will ich nicht vernünftig sein.


Am nächsten Tag entschuldige ich mich bei C und ziehe einen Schlussstrich unter diese Angelegenheit.


Doch wozu ich niemals in der Lage sein werde, ist einen Schlussstrich unter meine Rolle als vernünftige, älteste Tochter zu ziehen. Mein ganzes Leben lang werde ich in dieser Position verharren. Ein süßer Schmerz, der doch schwer zu ertragen ist.


Nur ich selbst weiß, wie sehr ich die Zeit vermisse, als ich das einzige Kind in unserer Familie war, von allen Verwandten umsorgt und verwöhnt. Jedes Mal, wenn wir in der Stadt waren, kaufte mir mein Großvater teure Köstlichkeiten aus Klebreis. Jeden Morgen vor dem Gang in die Schule flocht mir meine Großmutter Zöpfe, in die sie zwei rote Kunstblumen steckte. In unserer Grundschule auf dem Land war mein Kopfschmuck der prächtigste von allen. Von meiner Tante weiß ich, dass sie mir als kleines Mädchen viele niedliche Röckchen gekauft und ich darin wie eine kleine Prinzessin ausgesehen habe. Und meine Mutter erinnert sich voller Verlegenheit daran, wie ihr jedes Mal die Tränen übers Gesicht liefen, wenn sie mich damals am Bahnhof verabschiedete.


Niemals vergesse ich diese kalte Winternacht bei uns zu Hause im südlichen China: Mitten in der Nacht erwache ich mit Heißhunger aus dem Schlaf. Ich will gebratenen Reis essen. Ohne ein Wort zu sagen zieht sich mein Vater eine Jacke über und läuft in die kleine, im Dunkeln liegende Küche. Im Holzofen entzündet er ein Feuer und brät mir eine Schüssel Reis mit Eiern. Heute kann ich mich nicht mehr an den Geschmack erinnern, aber noch immer esse ich eine Schüssel gebratenen Reises, wenn ich unglücklich bin.


Den eigenen Vater mitten in der Nacht aufwecken und ihn bitten, eine Schüssel Reis zu braten – das ist etwas, was nur kleine, unvernünftige Kinder machen.


Könnte ich doch immer so unvernünftig sein.



 

[1] 李禾, 姐姐只能懂事, veröffentlicht online am 07.04.2021 auf der Reportage-Seite Truman’s Story (真实故事计划) unter https://mp.weixin.qq.com/s/8itfCKlVmwt5DqSvaaR_1Q


 

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