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Michaela Boehme

Lieferdienste: Die Schattenseiten der Bequemlichkeitsökonomie


Blick auf den ausgetrockneten Jialing-Fluss bei Chongqing
© Foodthink

 

Zheng Yuyang (Foodthink): Über 200 Millionen Chinesinnen und Chinesen bestellen ihr Essen täglich online – was wissen wir eigentlich darüber?

Übersetzt von Michaela Böhme

 

Anmerkungen zum Text


Der rasante Aufstieg von Online-Lieferdiensten hat das Essverhalten der Chinesinnen und Chinesen nachhaltig verändert. Plattformen wie Meituan (美团), Ele.me (饿了么) und andere Lieferdienste werden täglich von Millionen Menschen genutzt. Die Lieferanten, die auf ihren wendigen Elektroscootern durch die Straßen flitzen, um fertige, warme Mahlzeiten schnell und kostengünstig auszuliefern, prägen zunehmend das Straßenbild von Metropolen wie Peking, Shanghai und Shenzhen.


Begünstigt wurde dieses Wachstum durch die Verbreitung von Smartphones, schnelle Internetverbindungen und optimierte Apps. Auch die fortschreitende Urbanisierung, die Zunahme von Alleinlebenden und Berufspendlern, hat den Bedarf an schnellen und bequemen Mahlzeiten gesteigert. In Großstädten, in denen viele Menschen wenig Zeit oder Lust zum Kochen haben, bieten Online-Lieferdienste eine praktische Lösung.


Doch es gibt auch kritische Stimmen, die die Schattenseiten der Plattformökonomie anprangern. Besonders die schlechten Arbeitsbedingungen der Lieferfahrer sowie die negativen Auswirkungen auf Umwelt, Essverhalten und Gesellschaft sorgen immer wieder für hitzige Debatten.


Der Text, den wir hier vorstellen, wurde auf dem WeChat-Account von Foodthink (食通社) veröffentlicht – einer in Peking ansässigen Plattform, die sich auf Themen rund um Ernährung, nachhaltige Landwirtschaft und die sozialen sowie ökologischen Auswirkungen von Konsumverhalten konzentriert. Mit seinen Texten, Podcasts und Vorträgen erreicht Foodthink eine breite Leserschaft in China und ist besonders in akademischen sowie politischen Kreisen und bei umweltbewussten Konsumentinnen und Konsumenten bekannt.


 

Über 200 Millionen Chinesinnen und Chinesen bestellen ihr Essen täglich online – was wissen wir eigentlich darüber?

Zheng Yuyang



Unmerklich hat die Digitalisierung mit ihren Internetdiensten, Algorithmen und Künstlicher Intelligenz die Essgewohnheiten der auf ihre Ernährungskultur so stolzen Chinesen tiefgreifend verändert.


Am offensichtlichsten zeigt sich dies in der Art und Weise, wie die Chinesen Lebensmittel konsumieren.


Laut Medienberichten bedienen sich wöchentlich 275 Millionen Menschen der Plattform Meituan, um ihre kulinarischen Bedürfnisse zu befriedigen – sei es bei der Restaurantsuche, Entscheidungsfindung über Rankings, Bestellung, Vor-Ort-Verzehr oder Lieferung nach Hause. Im Jahr 2023 erreichte die Zahl der Nutzer von Lieferplattformen in China 535 Millionen. Davon bestellen 4,08 % mehr als 20 Mal pro Woche (durchschnittlich 3–4 Mal täglich), 13,52 % bestellen 11–20 Mal wöchentlich (durchschnittlich 2–3 Mal täglich) und 32,78 % bestellen 5–10 Mal pro Woche (durchschnittlich 1–2 Mal täglich). Mit anderen Worten: Etwa die Hälfte der städtischen Bevölkerung Chinas bestellt fast täglich Essen.


Aber nicht nur das Essen wird geliefert – auch Zutaten für das Kochen zu Hause stammen oft von Online-Händlern. Führende Unternehmen wie Dingdong Maicai, JD Daojia, Xiaoxiang Supermarket und Hema Xiansheng sind Vorreiter in diesem Bereich. Im Jahr 2023 gab es in China 26.300 Online-Händler für Frischwaren, mit einer Nutzerbasis von 513 Millionen Menschen. Der Anteil des Frischwaren-E-Commerce an den Lebensmittelausgaben städtischer Haushalte lag bei 29,4 %.


Diese Liefer- und Einkaufsplattformen werben mit dem Versprechen von Bequemlichkeit, Effizienz und Intelligenz, doch ihre negativen Auswirkungen auf Gesellschaft, Umwelt, sowie die Qualität und Sicherheit von Lebensmitteln werden immer deutlicher. Besonders im Fokus stehen dabei die Plattform-Arbeiter, allen voran die Lieferfahrer.


2024 berichteten Medien, Wissenschaftler und Filmemacher intensiv über Lieferdienste und E-Commerce-Plattformen. In diesem Artikel fassen wir einige der bemerkenswertesten Geschichten, Ereignisse und Artikel des vergangenen Jahres zusammen. Diese stammen teils aus der eigenen Redaktion von Foodthink, teils von Institutionen und unabhängigen Medien. Zudem stellen wir zwei neue Bücher und zwei Filme vor, die sich mit der Thematik befassen.

Auch im Jahr 2025 wird Foodthink die Auswirkungen der Digitalisierung und des Kapitals auf die Produktion und den Konsum von Lebensmitteln sowie deren Einfluss auf Natur und Menschen untersuchen. Wir laden gleichgesinnte Autoren ein, sich mit Beiträgen, Recherchen und Diskussionen zu beteiligen.


1. Betteln im Netz: Der König der Aufträge

Im Mai 2024 erlitt ein Lieferfahrer bei einem Unfall während der Erledigung eines Meituan-Auftrags mehrere komplizierte Handfrakturen.


Obwohl er auf die sogenannte Meituan-Crowdsourcing-Versicherung vertraut hatte, deckte diese den Unfall nicht ab. Während er auf Unterstützung wartete, schwanden allmählich seine Ersparnisse. Letztlich blieb ihm nichts anderes übrig, als über seinen Schatten zu springen und im Internet bei wildfremden Menschen um Hilfe zu betteln.


Doch nicht jeder Fahrer lebt lange genug, um so weit zu kommen. Im August 2024 starb ein 55-jähriger Lieferfahrer namens Yuan während eines Auftrags in Hangzhou an Erschöpfung. Er war für seine „unermüdliche“ Arbeitsweise bekannt und ruhte oft nur drei bis vier Stunden am Tag.


2. Lieferfahrer in Hangzhou gezwungen, nieder zu knien – Massenprotest der Fahrer

Lieferfahrerinnen und -fahrer kämpfen nicht nur mit der lebensgefährlichen Hast, mit der sie ihre Aufträge erfüllen müssen, sondern auch mit alltäglichen Ungerechtigkeiten. Am 12. August 2024 kniete ein Fahrer in Hangzhou vor einem Wachmann nieder, um das Gelände betreten und seine Bestellung ausliefern zu dürfen, nachdem er versehentlich ein Geländer beschädigt hatte. Dieses Ereignis löste einen kollektiven Protest der Lieferfahrer in der Umgebung aus und lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf die prekären Arbeitsbedingungen.


3. Eine Familie aus fünf Lieferfahrern

Der 29-jährige Ma Chuang, ein als Lieferfahrer in Peking lebender Wanderarbeiter, geriet letztes Jahr in den Fokus der Medien, weil fünf der sechs Mitglieder seiner Familie als Essenslieferanten arbeiteten. Doch nachdem die Familie zwei Jahre lang für die Plattform Meituan Lieferungen erledigt hatte, wurden sie nach dem Frühlingsfest im vergangenen Jahr einer „Optimierung“ unterzogen, woraufhin Mas Einnahmen erheblich sanken. Zudem erlitt Mas Vater einen schweren Unfall bei einem Auftrag. Es wurde Ma klar, dass der Job als Essenslieferant ein „Hochrisikoberuf“ ist.


Im Mai 2024 entschied sich Ma, in seine Heimat in die Provinz Henan zurückzukehren und sein Leben neu zu ordnen. Doch der Rhythmus des Lieferdienstalltags hat tiefe Spuren in ihm hinterlassen hatte. Bis heute fällt es ihm schwer, den „Lieferkreislauf“ in seinem Unterbewusstsein hinter sich zu lassen.


4. Algorithmen und KPIs: Wie Lieferplattformen Fahrer unter Druck setzen

Warum fahren Essenslieferanten oft gegen die Fahrtrichtung, überschreiten die Lieferzeiten, überqueren bei Rot die Straße oder werden gar Opfer und Verursacher von Verkehrsunfällen? Der Grund liegt in den Algorithmen der Plattformen, die die Lieferzeiten der Fahrerinnen und Fahrer ständig verkürzen, kombiniert mit einer ausbeuterischen KPI- und Belohnungs-Bestrafungs-Mechanik.


Instabile Arbeitsverhältnisse, niedrige Löhne, geringe Sozialleistungen, strikte Anwesenheitsregelungen und exzessive Arbeitsbelastung sind grundlegende Merkmale dieser digitalen Gig-Economy. Hinzu kommt, dass solche Tätigkeiten leicht ersetzbar sind und die Arbeitsprozesse stark dezentralisiert ablaufen. Daher fehlt diesen digitalen Arbeiterinnen und Arbeitern nahezu jede Möglichkeit, in Konflikten mit den Plattformen kollektiv zu verhandeln.


Das zentrale Problem ist jedoch, dass Algorithmen und künstliche Intelligenz die Kontrolle der Plattformen über die Arbeiter immer weiter verstärken, während die Plattformen versuchen, diese Macht durch den Deckmantel eines technologischen Fortschritts zu rechtfertigen. Ihr wahres Ziel – die Maximierung von Effizienz und Profit – wird dabei bewusst verschleiert.


Unter solchen Bedingungen werden die digitalen Arbeiterinnen und Arbeiter zu entmenschlichten, algorithmisch gesteuerten „Maschinen aus Fleisch und Blut“ degradiert. Die von Plattformen und Algorithmen kontrollierten Lieferfahrer laufen buchstäblich um ihr Leben – bis sie im schlimmsten Fall den ultimativen Preis zahlen.


5. Wer trägt die Verantwortung für die Lebensmittelsicherheit?

Selbst wenn manche Konsumentinnen und Konsumenten der Meinung sind, dass die Sicherheit der Lieferfahrer allein in der Verantwortung der Plattformen und der Regierung liegt, dürfen sie eines nicht vergessen: Die Plattformen schaden nicht nur Fahrerinnen und Fahrern sondern auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Denn das Essen, das unter Lebensgefahr geliefert wird, ist oft nicht nur ungesund, sondern möglicherweise auch rundheraus unsicher.


Im August 2024 deckte der Nachrichtensender CCTV eine Reihe von „Geisterrestaurants“ auf. Diese Betriebe arbeiten mit gemieteten Lizenzen, verwenden falsche Adressen und Bilder und tarnen sich so als hochbewertete, beliebte Restaurants. Gleichzeitig wurden auch gravierende Probleme bei der Lebensmittelsicherheit in mehreren Lieferrestaurants aufgedeckt – darunter Betriebe, die sich direkt neben Schrottplätzen befinden.


Das sind keine Einzelfälle. Bereits 2016 enthüllte die Fernsehsendung 315 die Zusammenarbeit von Lieferplattformen mit nicht lizenzierten Restaurants. Acht Jahre später hat sich an diesen Missständen kaum etwas geändert. Plattformen ignorieren solche Probleme zugunsten ihrer Marktanteile und lassen fragwürdige Anbieter gewähren. Branchenexperten argumentieren sogar, dass die aggressiven Niedrigpreisstrategien der Plattformen dazu beigetragen haben, dass „schlechtes Geld das gute verdrängt“ – also schlechte Anbieter die besseren verdrängen.


Doch kann man durch die Bestellung bei renommierten Restaurants sicher sein, gutes Essen zu bekommen? Der bekannte Fernsehkoch Chen Xiaoqing verriet kürzlich in einem Gespräch mit Luo Yonghao[2], dass er keine Lieferapps auf seinem Handy hat und niemals Essen bestellt – selbst nicht bei hochbewerteten Restaurants. Auf die Frage nach dem Grund sagte er nur: „In dieser Branche bin ich zu tief drin, um das zu tun. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“


Wenn Lieferplattformen nicht nur unfähig sind, Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten, sondern sogar die Entwicklung einer schwarzen Lebensmittelindustrie fördern, stellt sich die Frage: Welchen Wert hat dieses Geschäftsmodell für die Verbraucherinnen und Verbraucher überhaupt?


6. Warum konnte der Film „逆行人生“ (Upstream) weder Kritiker noch Publikum überzeugen?

Upstream, der neue Film von Regisseur und Schauspieler Xu Zheng, wurde im Sommer 2024 als Nachfolger seines erfolgreichen Werks Dying to Survive beworben und als weiteres „realistisches Meisterwerk“ vermarktet. Der Film versuchte, sowohl die Existenzängste der Mittelschicht als auch die Härten des Arbeitsalltags von Essenslieferanten in den Fokus zu rücken. Doch anstatt die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Konflikte ehrlich zu adressieren, wurde die Botschaft des Films durch eine „positive Energie“-Erzählung verwässert, die grundlegende Widersprüche relativierte und beschönigte.


Das Ergebnis war wenig überraschend: Upstream blieb weit hinter den kommerziellen Erwartungen zurück. Die zahlreichen negativen Kritiken, die der Film erhielt, lösten zudem eine öffentliche Debatte aus. Dabei stand die Frage im Zentrum, ob Kapital durch kulturelle Produkte die Not der unteren Schichten nicht nur konsumiert, sondern sogar weiter ausbeutet.


Besonders kontrovers war das Ende des Films, in dem Xu Zheng mit einer scheinbar „optimistischen Lösung“ versucht, den Konflikt zwischen Lieferplattformen und Lieferanten zu entschärfen. Diese Lösung wirkte jedoch auf viele Zuschauerinnen und Zuschauer unehrlich und realitätsfern, da sie den tatsächlichen Druck und die Ungerechtigkeiten, die viele in ihrem Alltag erleben, ignorierte.


In diesem Sinne verfehlte Xu Zheng nicht nur als Regisseur, sondern auch als geschäftstüchtiger Produzent die Gefühlslage des Publikums. Der Versuch, einen gesellschaftskritischen Film mit kommerziellem Kalkül und einer glattgebügelten Botschaft zu verbinden, scheiterte sowohl künstlerisch als auch wirtschaftlich.



7. Reflexionen über Algorithmen: Regiedebüt richtet Blick auf Lieferfahrer und Programmierer

Zum Glück ist Upstream nicht der einzige Film über Essenslieferanten im Jahr 2024. 又是充满希望的一天 (Another Day of Hope) ist das Regiedebüt von Liu Taifeng, das trotz des Widerstands seitens der Lieferplattformen eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Problemen der Plattform-Ökonomie bietet. Der Film wurde mit dem Preis für „low budget“ Filme bei den 37. Golden Rooster Awards[3] ausgezeichnet.


Another Day of Hope ist ein Film über Sehen und Veränderung. Zu Beginn glaubt der männliche Hauptcharakter, ein Programmierer, fest an den Wert seiner Arbeit und die damit verbundene Lebensweise der Mittelschicht. Selbst nachdem er einen Lieferfahrer in die Intensivstation fährt, bleibt seine Reaktion relativ gleichgültig. Er versteht nicht, wie der Lieferant in das von ihm mitgestaltete Algorithmus-System gefangen ist.


Vielleicht ist dies nicht nur ein Problem von Programmierern und Lieferfahrern, sondern auch ein Symptom der modernen Gesellschaft: Wenn Menschen in ihren eigenen, hektischen Arbeitsalltag verstrickt sind, werden zwischenmenschliche Beziehungen zunehmend entfremdet und kalt, bis sie in eine unüberwindbare Feindschaft übergehen.


Erst nachdem der Hauptcharakter selbst seinen Job verliert, erkennt er, dass sowohl Programmierer als auch Lieferfahrer nur zwei Gruppen von Menschen sind, die unter der Kontrolle von Plattformkapital und Algorithmen leiden. Beide haben ihre Zukunft nicht in der Hand.


Der Film endet tragisch mit dem Tod eines Lieferfahrers, doch im Gegensatz zu Upstream wird das Leid der unteren Schichten nicht ausgenutzt oder kommerzialisiert. Nach seiner eigenen Erfahrung trifft der Hauptcharakter eine „unerwartete“ Entscheidung: Im Gegensatz zum Protagonisten von Upstream lässt er sich nicht erneut vom Kapitalismus vereinnahmen, sondern stellt sich an die Seite der Lieferfahrer. Gemeinsam kämpfen sie gegen die Plattformen und versuchen, durch persönliche Entscheidungen und Handlungen neue Hoffnung zu finden.


Vielleicht ist dies die Botschaft des Films: In einer Gesellschaft, die zweifellos von Unglück und Tragödien geprägt ist, könnte die Veränderung beginnen, wenn wir lernen, einander zu sehen. Das Bewusstsein für diese Verhältnisse könnte zu einer Erweckung führen, die einen Wandel ermöglicht.



[…]


9. Überarbeit und Kontrolle in der digitalen Ära

2024 erschienen zwei Bücher von Wissenschaftlern, die sich mit dem Alltag von Essenslieferanten beschäftigen. Beide Werke sind weniger wissenschaftliche Fachliteratur als vielmehr Sachbücher mit gesellschaftlichem Fokus. Nach ihrer Veröffentlichung entfachten sie erneut eine Debatte über die Arbeitsbedingungen von Lieferfahrern.


Das Buch "Digitale Beschleunigung: Arbeit und Kontrolle in der Plattformökonomie"  (《数字疾驰:外卖骑手与平台经济的劳动秩序》) basiert auf der Doktorarbeit des Soziologen Chen Long. Im Jahr 2018 arbeitete er für ein halbes Jahr undercover als Lieferfahrer in Zhongguancun, einem der geschäftigsten Liefergebiete Pekings. Seine Erfahrungen bilden die Grundlage für eine detaillierte Beschreibung des Arbeitsalltags der Fahrer sowie ihrer Interaktionen mit Plattformen, Restaurants und Kunden – ein Beispiel für das, was Soziologen als "Arbeitsprozess" bezeichnen.


Chen Long zeigt, dass sich die Arbeit von Lieferfahrern grundlegend von der klassischen Fabrikarbeit unterscheidet: Die Kontrolle über ihre Arbeit wird nicht allein durch den Arbeitgeber, also die Plattform, ausgeübt. Stattdessen verteilt sich die Macht auch auf Restaurants und Kunden, wodurch der Konflikt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer oberflächlich entschärft wird. Gleichzeitig wird die Kontrolle jedoch zunehmend unsichtbarer: Lieferfahrer sehen auf der Plattform nur Anweisungen, ohne zu wissen, wer im Hintergrund die Fäden zieht.


Auf den ersten Blick scheint die Arbeit den Fahrern mehr individuelle Freiheit zu bieten als die kollektive Fabrikarbeit – etwa durch das Prinzip „mehr Arbeit, mehr Verdienst“. Doch durch digitale Technologien wird jede Bewegung der Fahrer überwacht und gesteuert. Diese vermeintliche Freiheit wird so zu einer paradoxen Kombination aus Autonomie und Kontrolle. Chen Long beobachtet, dass der Handlungsspielraum der Fahrer im Laufe der Jahre immer stärker eingeschränkt wurde, während die Kontrolle durch die Plattformen stetig zunahm.


Das Buch „Übergangsarbeit: Essenslieferanten in der Plattformökonomie“ (《过渡劳动:平台经济下的外卖骑手》) hingegen ist eine ethnografische Studie über die Lebens- und Arbeitsrealität von Essenslieferanten. Die Autorin Sun Ping begann 2017 mit ihrer Forschung, die sich über sieben Jahre erstreckte. In dieser Zeit begab sie sich in die Lebenswelt der Fahrer und überwand die Grenzen zwischen zwei zunächst getrennten sozialen und beruflichen Sphären.


Der Begriff „Übergang“ verweist auf die starke Mobilität und Unsicherheit, die den Beruf der Essenslieferanten prägen. Sun Ping stellte fest, dass viele Fahrer ihre Tätigkeit als vorübergehende Lösung betrachten – eine „Übergangsphase“. Doch häufig wird aus dieser angeblich temporären Arbeit eine dauerhafte Lebensrealität. Einmal in die Welt der Gig-Arbeit eingetreten, kehren die meisten Fahrer nicht mehr in traditionelle Arbeitsfelder wie Fabriken zurück. Ihre „Übergangsarbeit“ spiegelt sich in einem ständigen Wechsel zwischen verschiedenen Plattformen wider: Heute liefern sie Essen, morgen arbeiten sie als Paketboten, und übermorgen fahren sie möglicherweise für einen Fahrdienstanbieter.


Für heutige Gig-Arbeiter sind Leben und Arbeit, Produktion und Reproduktion enger miteinander verflochten als jemals zuvor. Sun Ping versucht, die Arbeit von Essenslieferanten nicht nur durch die Linse von Kontrolle und Arbeitsprozessen zu betrachten, sondern ihre Lebensrealität in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Sie möchte nicht nur die Arbeitsbedingungen und täglichen Routen der Fahrer beschreiben, sondern auch ihr Privatleben, ihre familiären Beziehungen, Freundschaften und Gedanken. Dadurch wird deutlich, wie stark die individuelle Lebensgeschichte mit den Anforderungen der Arbeit in Spannung steht.


Nach der Veröffentlichung des Buches löste es lebhafte Diskussionen aus. Besonders kontrovers war eine Auseinandersetzung mit den Autoren eines früheren Artikels, „Die Essenslieferanten: Gefangen im System“, der in der Zeitschrift Renwu veröffentlicht wurde. Dieser Artikel hatte erstmals die Verknüpfung zwischen Essenslieferanten und der algorithmischen Kontrolle von Plattformen aufgezeigt. Die Autoren und Redakteure warfen Sun Ping vor, sie habe ihre eigene Rolle in der Berichterstattung überbetont. Diese Vorwürfe führten zu einer breiten Debatte über Forschungsethik und die Rolle von Wissenschaftlern im Zusammenspiel mit den Medien.


Obwohl es vordergründig um Urheberrechtsfragen ging, drehte sich der eigentliche Streitpunkt um die gesellschaftliche Reichweite des Artikels und den Wettstreit um die Umwandlung dieser Reichweite in kulturelles und womöglich ökonomisches Kapital – sowohl im akademischen als auch im medialen Kontext.


Einige Beobachter empfanden die Debatte als zynisch und abgehoben, da Essenslieferanten weiterhin unter den realen Bedingungen der Plattformökonomie arbeiten. Doch die Kontroverse wirft eine wichtige Frage auf: Können Forscher und Journalisten wirklich objektiv im Interesse der Fahrer sprechen, wenn sie dabei eigene Vorteile – sei es kulturelles Ansehen oder wirtschaftliche Gewinne – verfolgen? Und was passiert mit den Geschichten über die Fahrer, wenn Plattformen anfangen, den Zugang zu Informationen oder Ressourcen direkt an Wissenschaftler und Medien zu vergeben?


Letztlich entscheidet die Motivation der Medien und Wissenschaftler, wie die Öffentlichkeit Essenslieferanten wahrnimmt. Diese Wahrnehmung beeinflusst direkt, ob und wie echte Veränderungen und Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Menschen stattfinden können.


10. Mitarbeitende als Arbeitsmaschinen

Ähnlich wie die Essenslieferplattformen versucht auch Bianlifeng (便利蜂), ein Unternehmen, das sich selbst als „intelligent“ und „digital“ bezeichnet, ein hochgradig zentralisiertes Algorithmus-System zu etablieren. Dabei werden die Mitarbeiter zu körperlichen Maschinen, die den Befehlen des Algorithmus folgen.


Doch Bianlifeng geht möglicherweise noch einen Schritt weiter als viele andere Internet-Technologieunternehmen. Der Gründer Zhuang Chenchao verfolgte das Ziel, „alle menschlichen Entscheidungen im täglichen Betrieb an den Computer zu übergeben“ und ein vollständig automatisiertes System zu schaffen. Der Arbeitsalltag der Mitarbeiter besteht aus 70 bis 80 einfachen Aufgaben, die sie mechanisch ausführen: Kehren, Abwischen, Regale auffüllen oder Mahlzeiten zubereiten.


In traditionellen Convenience Stores dauert es etwa zwei Jahre, einen Filialleiter auszubilden. Bei Bianlifeng hingegen reicht eine Schulung von nur sechs Monaten aus. Der Einsatz von Algorithmus-Systemen anstelle von Filialleitern hat es Bianlifeng zwar ermöglicht, rasant zu expandieren, doch der Preis dafür ist ein stark eingeschränkter Handlungsspielraum der Mitarbeiter und ein extrem belastendes Arbeitsumfeld. Zudem führt die häufige Rotation zwischen Filialen zu einer hohen Arbeitsplatzinstabilität.


Ironischerweise hat sich gezeigt, dass Algorithmen in der Betriebsführung nicht unbedingt überlegen sind. Nach Jahren schnellen Wachstums häuften sich ab Ende 2021 Meldungen über Entlassungen und Filialschließungen, wodurch die Zahl der Filialen von über 3000 auf nur noch etwa 1000 sank.


Heute steht Bianlifeng nicht mehr im Fokus der Investoren, und das übermäßige Vertrauen in das algorithmusbasierte Geschäftsmodell wird zunehmend hinterfragt.


11. Kooperation statt digitale Monopole: Ein alternatives Liefermodell

Wenn digitale Technologie an sich neutral ist, könnte ein möglicher Schlüssel zur Veränderungen darin bestehen, die Machtquelle des „Plattform-Kapitalismus“ zu verändern: die Kontrolle von Unternehmen über das Internet und die Algorithmen als zentrale Produktionsmittel.


In den letzten Jahren hat sich der aufkommende „Plattform-Kooperativismus“ als alternative Lösung etabliert, die in gewisser Weise die Logik des „Plattform-Kapitalismus“ umkehrt. CoopCycle aus Europa ist ein Paradebeispiel dafür. Es handelt sich um ein Netzwerk von Fahrradlieferkooperativen, das in 16 Städten aktiv ist. CoopCycle stellt eine kostenlose, Open-Source-Liefer-App zur Verfügung, die es Fahrerinnen und Fahrern ermöglicht, die App an lokale Bedürfnisse anzupassen und eigene Fahrradlieferkooperativen zu gründen.


Anders als herkömmliche Plattformunternehmen stellt CoopCycle den Fahrern lediglich die notwendigen Informationswerkzeuge zur Verfügung, zieht jedoch keinen Gewinn aus jeder Bestellung. Stattdessen erhebt das Unternehmen eine Gebühr von 2,5 % auf den erzielten Gewinn jeder Kooperative (mindestens 500 Euro pro Jahr), die zur Finanzierung des eigenen Betriebs verwendet wird. Gleichzeitig unterstützt CoopCycle die Fahrerinnen und Fahrer und Kooperativen mit Hilfe in Bereichen wie Geschäftsmodellen, Schulungen und Kommunikation mit Verbraucherinnen und Verbrauchern. Die Kooperative betont: „Geld sollte nicht für sich selbst arbeiten, sondern alle Gewinne sollten den Werktätigen zugutekommen – nur wer ausliefert, verdient auch Geld.“


CoopCycle versteht sich als „digitale Commons“, wobei alle während der Lieferung generierten Daten und Informationen im Besitz der Kooperative bleiben. CoopCycle setzt Informationstechnologie nicht zur Überwachung der Fahrerinnen und Fahrer ein. Es gibt ein klares Arbeitsverhältnis zwischen den Ausliefernden und der Kooperative, bei dem die Bezahlung auf der Arbeitszeit und nicht auf der Anzahl der Bestellungen basiert. Die Fahrerinnen und Fahrer erhalten ein festes Gehalt, Arbeitslosengeld, Krankenversicherung und bezahlten Urlaub. Durch das demokratische Modell „eine Kooperative – eine Stimme, ein Mensch – eine Stimme“ haben die Fahrerinnen und Fahrer Mitspracherecht bei der Verwaltung und Entscheidungsfindung.


Die Geschichte von CoopCycle zeigt deutlich, dass die digitale Technologie und der Lieferservice an sich keine Probleme darstellen. Wenn die Macht bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern liegt, können Technologie und Plattformen zu einer Win-Win-Situation für Werkstätige, Verbraucher und Umwelt führen.


12. Gesetzliche Regelungen für Plattformarbeiter in Singapur

Ab dem 1. Januar 2025 erhalten Plattformarbeiter in Singapur, die in den Bereichen Essenslieferung, Kurierdienste und Mitfahrgelegenheiten tätig sind, erweiterte soziale Sicherheitsleistungen, darunter Unfallversicherung, Altersvorsorge, Gesundheitsversorgung und Wohnungszuschüsse. Zudem haben sie die Möglichkeit, „Plattformarbeitervereinigungen“ zu gründen, um ihre kollektive Verhandlungsmacht zu stärken. Diese Veränderungen sind Teil des „Plattformarbeitergesetzes“ (The Platform Workers Bill), das am 10. September 2024 vom singapurischen Parlament verabschiedet wurde.


Singapur gehört zu den ersten Ländern weltweit, die spezielle gesetzliche Schutzmaßnahmen für Plattformarbeiter eingeführt haben. Das „Plattformarbeitergesetz“ gilt als Meilenstein und bietet wertvolle Ansätze zur Lösung der Arbeitsmarktschutzprobleme im Kontext der Plattformwirtschaft, die auch für Länder wie China und andere von Interesse sein dürften.


Nach Inkrafttreten des Gesetzes kündigten Singapurs führende Plattformen wie Grab an, ab 2025 eine zusätzliche Gebühr von 0,2 Singapur-Dollar (etwa 1 RMB) pro Bestellung zu erheben, um die Kosten für die Umsetzung der neuen Vorschriften zu decken. Ob diese Maßnahme tatsächlich die Rechte der Arbeiter stärkt und ob sie als Modell für andere Länder dienen kann, bleibt abzuwarten. Wir werden das Thema weiterhin beobachten.


Was wirst du 2025 essen?

Wie ernährst du dich normalerweise? Bestellst du oft bei Lieferdiensten oder kochst du lieber selbst? Holst du deine Lebensmittel vom Markt oder bestellst du online? Es lohnt sich, über die Menschen nachzudenken, die hinter der Produktion und Lieferung unserer Lebensmittel stehen. Ebenso sollten wir uns bewusst machen, wie unser Konsumverhalten Auswirkungen auf unsere Gesundheit, die Gesellschaft und die Umwelt hat.


Wir freuen uns auf deine Meinungen und Gedanken zu diesen Themen. Wenn du Interesse am Schreiben oder Forschen hast, schließe dich unserer Schreibgemeinschaft an und lass uns gemeinsam Themen rund um Arbeit, Gesundheit und Umwelt im Zusammenhang mit Lebensmitteln weiterverfolgen.


Die Foodthink-Redaktion bestellt übrigens nie Essen über Lieferdienste. Jede Woche kaufen wir ökologische Produkte von kleinen Bauernmärkten in Peking und kochen abwechselnd im Büro. Scanne den QR-Code am Ende des Artikels, folge uns auf verschiedenen Plattformen und entdecke, was wir so essen!


 

[1] 郑玉阳:2亿多中国人每天都吃的外卖,我们了解多少?, veröffentlicht online am 06.01.2025 auf der WeChat-Seite der Denkfabrik und Online-Plattform Foodthink 食通社 https://mp.weixin.qq.com/s/0CXjRynoW6ddIkPt3nN_yw


[2] Luo Yonghao ist ein chinesischer Unternehmer und Internet-Prominenter. Er wurde bekannt als Gründer von Smartisan, einer Marke für Smartphones und Technologieprodukte und hat sich in den letzten Jahren verstärkt dem Bereich Livestream-E-Commerce zugewandt.


[3] Die Golden Rooster Awards sind ein Filmpreis, der alle zwei Jahre in der Volksrepublik China vergeben wird.


 


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